DAS MAIRATAL

Das Mairatal

Die Geschichte eines okzitanischen Tals

Von prähistorischen Siedlungen wurden im ganzen Mairatal weder Reste noch einzelne Fundstücke entdeckt. Die in Stein geschlagenen Gesichter auf Kapitellen, Türflügeln, auf Brunnen und Gebäuden, die auf ca. 1400 datiert werden und keinerlei Verbindung zur römischen oder frühchristlichen Epoche aufweisen, können trotzdem nur damit erklärt werden, dass sie sich auf eine seit inzwischen Jahrtausenden verschwundene Tradition beziehen. Die Skulpturen menschlicher Köpfe, die sich im Tal befinden, sind damit Zeugen einer blühenden Kultur in vorromanischer Zeit.
Die Präsenz der Römer auf diesem Territorium ist durch einige Gedenktafeln und andere Objekte aus jener Zeit bezeugt. Eine Gedenktafel, die an der Wand der Friedhofskapelle von Pagliero, einem Ortsteil von San Damiano Macra, gefunden wurde, führt zu der Annahme, dass das Tal vom römischen Geschlecht der Pollia bewohnt war. Diese Gedenktafel kann mit ziemlicher Sicherheit auf das 1. Jahrhundert nach Christus datiert werden.
Auch wenn es nicht möglich ist, mit Genauigkeit die Lage der verschiedenen Siedlungen im Tal festzulegen, kann man behaupten, dass das Tal ein lebendiges Zentrum auf den großen Kommunikations - und Handelswegen war.
Aus dem Zeitalter der barbarischen Invasionen gibt es nur wenige Informationen: Gegen Mitte des 4. Jahrhunderts werden die Sarmater im Raum von Cuneo ansässig. Im Jahr 410 stoßen die Westgoten auf die römischen Truppen bei Pollenzo. Bereits Anfang des 8. Jahrhunderts lassen sich die Langbarden dauerhaft nieder. Und in diese Epoche, genauer gesagt ins Jahr 710, fällt die Gründung des ältesten Monuments der Gegend: des Klosters von San Costanzo al Monte am Taleingang zwischen den Gemeinden Dronero und Villar San Costanzo.
Zwischen 906 und 912 fallen die Sarazenen in das Tal ein und zerstören unter anderem auch das Kloster von San Costanzo; in den Jahren 942 bis 985 werden sie aber gezwungen, die besetzten Ländereien aufzugeben.
Während dieses langen von barbarischen und sarazenischen Invasionen geprägten Zeitraums lässt sich ein beträchtlicher Bevölkerungszuwachs im oberen Mairatal verzeichnen: In der Tat flüchten sich die Bewohner aus der Ebene aufgrund der Plünderungen in die Berge, wo sie neue Dörfer gründen.
Der gemeinsame Kampf gegen die Eindringlinge stellt einen der Faktoren dar, der stark zur Bildung eines Identitätsgefühls beitrug und der in der Folgezeit in eine politisch - administrative Gemeinschaft mündete.
In der Gründungsurkunde der Abtei Santa Maria di Caramagna (28.5.1028) werden erstmals sowohl das Mairatal als auch einige Dörfer und Ländereien des Mairatals genannt. Unter den Ländereien, die vom Markgrafen dem Kloster gestiftet wurden, finden sich auch die heutigen Gemeinden von Roccabruna, San Damiano, Stroppo, Prazzo und Acceglio.
Wie man leicht feststellen kann, sind hier fast alle Hauptgemeinden des Tales genannt, mit Ausnahme von Dronero, das erst viele Jahre später (ungefähr im 12. Jahrhundert) gegründet wird.
Die Gründungsurkunde des Klosters von Caramagna bleibt das einzige Zeugnis für das Mairatal im ganzen 11. Jahrhundert.
Auf ihren Vater Olderich Manfred folgt die Gräfin Adelaide, nach deren Tod im Jahr 1091 im Tal tauchen zahlreiche kleine Feudalbesitzer auf, die das Land unter sich aufteilen, ohne dass jedoch einer eine Vorrangstellung einnimmt. Aus der Notwendigkeit heraus sich verteidigen zu müssen, werden die ersten Burgen von Montemale, Roccabruna und San Damiano gebaut. Im 11. und 12. Jahrhundert ist das Tal vom Pfarrbezirk von Caraglio abhängig.
Im Jahr 1159 schenkt Friedrich Barbarossa alle Güter und die dazugehörigen Ländereien dem Turiner Bischof. Ein weiterer Herr kommt somit zu den bereits zahlreichen Feudalherren dazu.
Im Jahr 1209 wird nach verschiedenen Erbfolgen die Bevölkerung des Mairatals Teil der Markgrafschaft von Saluzzo, lebt dabei aber weiterhin in bemerkenswerter Freiheit. Das Territorium wird in drei Gebiete aufgeteilt, die die geographische Lage und die wirtschaftliche Situation widerspiegeln: Dronero bildet alleine den unteren Teil, alle Ländereien bis San Damiano und Pagliero werden im mittleren Teil zusammengefasst, während das obere Mairatal aus den übrigen zwölf Gemeinden besteht.

ValMaira

Alpine Verbände, Selbstverwaltung und Autonomie

Die Geschichte zeigt uns, dass die Markgrafen von Saluzzo ihre Untertanen weder tyrannisierten noch ausbeuteten. Zahlreiche Statute sind aus dem 14. Jahrhundert überliefert. Große Unabhängigkeit wurde der Gemeinschaft des oberen Mairatals zugesprochen, die in einem Bund mit hoher Autonomie zusammengeschlossen war.
Die Kirchen des oberen Mairatals aus dem 11. bis 13. Jahrhundert folgen den Strukturen der schlichtesten romanischen Architektur: ein rechteckiger Grundriss, einschiffig mit Tonnengewölbe oder mit Sparrendach, halbkreisförmige Apsis mit abgeflachtem Gewölbe oder, seltener, viereckig mit Tonnengewölbe, und als Außenschmuck Halbbögen. In einigen Fällen kann man einen zusätzlichen Bogen an der Frontseite feststellen, der dazu diente, das Gewicht, das auf dem Architrav des Portals lastet, aufzuteilen. Als Baumaterial werden weiterhin Stein und Holz verwendet.
Die gotische Architektur, die sich in Frankreich als Zeichen wirtschaftlicher Macht entwickelt, ist der Anstoß für großartige Bauten mit dem Einsatz von wertvollen Materialien; sie manifestiert sich in Italien gegen Ende des 12. Jahrhunderts mit der Gründung neuer Klöster und dem Entstehen der ersten Kathedralen und gemauerten Häuser. Zeitgleich dazu kann man die Geburt der „Kaste“ der Händler und Notare einordnen, die direkt die Gründung der Kommunen zur Folge hat.
In den Bergregionen kommt der gotische Einfluss erst sehr spät (13. bis 14. Jahrhundert) zum Tragen. Hier, wie in der gesamten italienischen Gotik, erhalten die architektonischen Elemente andere Kennzeichen als in der französischen Gotik. Umsetzungen dieses architektonischen Stils finden sich im Mairatal in den schlanken Spitzen einiger Kirchtürme, in den zahlreichen Spitzportalen und Spitzbögen und in den zahllosen Biforen.
Fest steht jedoch, dass im 14. Jahrhundert alle zwölf Gemeinden des Hochtales ihre eigene Kirche und wahrscheinlich auch viele Kapellen besitzen.
Das 14. Jahrhundert beginnt mit blutigen Kämpfen zwischen Welfen und Gibellinen. Der Konflikt löst sich durch das Erstarken der Markgrafschaft von Saluzzo, was förderliche Bedingungen für einen wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung schafft. Als Folge dieser Entwicklung entstehen zahlreiche Kirchen, deren Bau von der gesamten Bevölkerung finanziell getragen wurde; die Gebäude dienten schließlich sowohl für Gottesdienst als auch für Sitzungen der kommunalen Verwaltung und für Volksversammlungen. Während die Wohnhäuser in den meisten Fällen noch mit kostengünstigeren, einfacheren und leicht vergänglichen Materialien (Lehm, Stroh und Holz) gebaut wurden, musste die Kirche ein gemauertes Gebäude sein, um so die Zeit zu überdauern. Trotzdem erlaubte es die extreme Armut dieser Bevölkerung und die Schwierigkeit des Baustofftransports nicht, dass prachtvolle Gebäude entstanden, stattdessen wurden einfache und schlichte Kirchen erbaut, die aber den Wünschen der Einwohner entsprachen.
Die strenge Trennung zwischen Kirchenbezirk und Pfarrei verschwindet zunehmend: Sehr viele Pfarreien im Tal besitzen inzwischen eine Taufkapelle.
Im Jahr 1476 stirbt der damalige Markgraf von Saluzzo, Ludwig I., der die Markgrafschaft Ludwig II. überlässt; dieser bestätigt erneut der Bevölkerung des Tales die Privilegien und die Steuerfreiheiten, die sie schon zuvor unter Ludwig I. genossen hatten.
1486 gibt Ludwig II. den Auftrag, eine bequemere Straße zu bauen, um den Handelsaustausch zwischen der Markgrafschaft und Frankreich zu erleichtern, obwohl sich das Tal nach oben hin verengt und dadurch eine gewisse Schwierigkeit in der Verbindung zwischen unterem und oberem Tal besteht. Aus einer Landkarte von 1700 geht hervor, dass die befahrbare Straße bis San Damiano reichte und dann abbrach; das obere Tal hingegen war direkt mit Frankreich verbunden.
Die lange Friedenszeit nähert sich inzwischen dem Ende: Der Herzog von Savoien, Karl I. der Krieger, dringt in die Markgrafschaft ein; nach einer kurzen Belagerungszeit erreicht er Saluzzo im Jahr 1487, um dann seinen Feldzug weiter fortzuführen.
Dronero und das Mairatal, die bis zu dem Zeitpunkt nicht von den Kampfhandlungen berührt worden waren, ziehen es vor, dem Herzog zu huldigen, um einen sinnlosen Kampf zu vermeiden. Aber auch Frankreich stellt Forderungen an die Markgrafschaft von Saluzzo; in Erwartung einer endgültigen Entscheidung wird die Markgrafschaft dem Herzog von Clermont, Peter von Bourbon, anvertraut.
Nach verschiedenen wechselreichen Ereignissen gelangt der Markgraf Ludwig II. nach Dronero und erreicht die Rückgabe von Saluzzo und anderer Ländereien. So eröffnet sich eine weitere, wenn auch nur kurze Phase des Wohlstands für die Markgrafschaft. Zum Hofe der Herren von Saluzzo strömen Künstler aus verschiedensten Gegenden, aber vor allem aus der nahen Provence, herbei. Der bekannteste unter ihnen ist der flämische Maler Hans Clemer, bekannter unter dem Namen „Meister von Elva“, denn in der Pfarrkirche dieser Pfarrei findet sich eines seiner bedeutendsten Werke.
Im Jahr 1504 stirbt Ludwig II. und hinterlässt seiner Witwe die Regentschaft; diese lässt einen ersten groben Kataster der Ländereien im Mairatal erstellen.
1511 wird die Diözese von Saluzzo ins Leben gerufen: Dies folgt der Notwendigkeit einer immer schärferen Hierarchie der kirchlichen Organisation, die die eigenen Strukturen und die Verbindung mit Frankreich stärken möchte.
Von 1515 an lernt das Tal Krieg und Pestseuchen kennen; lange Zeit folgen sie wechselseitig aufeinander und untergraben so die Grundlage des Geistes, der die Gemeinschaft aufgerichtet hatte.
Zugleich werden in diesen Jahren alle bisher zugestandenen Freiheiten abgeschafft.
Im Jahr 1548, mit dem Tod des Viertgeborenen Ludwigs II., Gabriel, stirbt das Geschlecht der Markgrafen von Saluzzo aus, und so fällt die Markgrafschaft an Frankreich.
Die Freiheiten, die bisher die Grundlage für das Gemeinschaftsleben im Tal gebildet hatten, bestehen nun so gut wie nicht mehr. So finden auch die Siedlungsstrukturen keine volle Entsprechung mehr mit dem soziokulturellen Umfeld.
Der einzige Bereich, der sich in dieser Zeit zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert entwickelt, ist der der Kommunikation; dies ist zurückzuführen auf die ständig notwendigen Truppenverlagerungen.
Vom Dauphiné und dem okzitanischen Sprachraum ausgehend verbreitet sich inzwischen immer mehr der Kalvinismus; vor allem im oberen Mairatal fällt er auf sehr fruchtbaren Boden.
Daraufhin entstehen Spannungen zwischen Katholiken und Protestanten; zwischen 1575 und 1580 organisieren die ‚Häretiker’ verschiedene Aufstände, wüten in den katholischen Kirchen und schänden sie.
Im Jahr 1588 bemächtigt sich Karl Emanuel I. der Markgrafschaft von Saluzzo unter dem Vorwand, der sich ausbreitenden Häresie Einhalt zu gebieten, aber eigentlich mit der Absicht, seine eigenen expansionistischen Ziele voranzutreiben. Von diesem Moment an ist seine ganze Arbeit darauf gerichtet, die Häresie auszulöschen und lokale Autonomien zu zerstören, um so einen stark zentralistischen Staat zu errichten. Während ihm das erste Unterfangen Schwierigkeiten bereitet, gelingt ihm das zweite Unternehmen relativ leicht; so endet tatsächlich mit den Jahren von 1581 bis 1601 (das Jahr des Vertrags von Lyon, in welchem offiziell die Einverleibung der Markgrafschaft von Saluzzo in das Herzogtum Savoien bestätigt wird) die Geschichte der Unabhängigkeit des Mairatals und muss dem savoyischen politisch - administrativen Apparat weichen.
Das ganze 17. Jahrhundert und die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts sind düstere Jahrhunderte für das Tal: Die extreme Armut, in der die Bevölkerung lebt, bremst vollständig jegliche Aktivität.
In den Jahren um 1710 wird das Tal in den spanischen Erbfolgekrieg miteinbezogen, und abkommandierte militärische Einheiten lassen sich an der Grenze zu Frankreich nieder.
Im Jahr 1744 wird das Mairatal zur Bühne des österreichischen Nachfolgekriegs, an dessen Ende Karl Emanuel III. für eine Analyse der sozioökonomischen Situation des Staates sorgt. Aus dieser Analyse geht hervor, dass die Bevölkerung des Mairatals bis zum Jahr 1743 wächst; allein die Gemeinde von Acceglio erreicht mehr als 1000 Einwohner.
Die ökonomische Situation und der Lebensstandard der Bevölkerung sind deutlich besser als zuvor: Die Landwirtschaft hat sich von der starken Krise im 17. Jahrhundert eindeutig erholt. Während in der Ebene die ersten Webereien im industriellen Stil entstehen, wird im oberen Tal die Stoffherstellung noch in Hausarbeit durchgeführt.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts führt dieser wirtschaftliche Aufschwung zu einigen Veränderungen der Bautypen im Berggebiet: Es werden immer mehr Gebäude errichtet, die sich oft auf andere bereits bestehende Gemäuer stützen, und es werden Balkone, Galerien und Speicher gebaut, die von großen Pfeilern getragen werden. Diese neuen Elemente verändern jedoch nicht die Grundstruktur des alpinen Hauses, aber sie passen sich stärker den Bedürfnissen der Bewohner an.
Zurück zu den politisch - militärischen Ereignissen: In den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts lassen sich die Eroberungen von Napoleon Bonaparte beobachten. Auch die Bewohner des Mairatals leisten zusammen mit den Truppen von Viktor Amadeus III. den Franzosen Widerstand, erleiden jedoch eine Niederlage.
Nach den napoleonischen Siegen im Feldzug gegen Italien wird das Tal dem Verwaltungsbezirk Stura zugeordnet.
Im Jahr 1815 geht das napoleonische Reich vollständig zugrunde; am 9. Juni desselben Jahres gibt der Wiener Kongress Viktor Emanuel I. die seinerzeit von Frankreich besetzten Gebiete zurück.
Im 19. Jahrhundert beginnen neue Handelsaktivitäten im Tal; die Landwirtschaft ist ausreichend stark, um die Bedürfnisse des Tales zu befriedigen, und durch das ganze Jahrhundert hindurch lässt sich eine stetige Bevölkerungszunahme verfolgen.
Zwischen dem Ende des 19. und den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts verursachen zwei Veränderungen die wirtschaftliche Krise: die Industrialisierung und die technologische Entwicklung der Landwirtschaft.
Das Fehlen einer effektiven Regionalentwicklungspolitik führt zu einer gewaltigen Auswanderung: Zunächst nur vereinzelt, richtet sie sich auf die Provence, das Dauphiné und das Rhône - Tal, sie nimmt jedoch bald immer größere Ausmaße an und weitet sich in alle Richtungen hin aus.

 

 

  • Info: Bruna Sardi
  • Email: bruna@infovallemaira.eu
  • Phone +39 338 9523900